TÜBINGEN – Vor knapp zwei Wochen radelten etwa 900 Menschen über die B27, um gemeinsam gegen den weiteren Ausbau der Bundesstraße und für eine klima- und sozialgerechte Verkehrswende zu demonstrieren. Zusammen mit Fridays for Future Tübingen hatten 28 regionale und überregionale Klima- und Umweltschutzgruppen zur Raddemo aufgerufen.
Mit Sorge blickt Fridays for Future Tübingen auf die Art und Weise, wie sich der Landrat Joachim Walter im Tagblatt zur Demo äußerte. Dort kritisierte er allen voran die hohen Kosten, die Fridays for Future angeblich wissentlich in Kauf genommen haben soll.
Obwohl die Aktivist*innen die Demo bereits zwei Monate vorab angemeldet hatten, wies die Stadt Tübingen die Organisator*innen erst kurz vor der Demo auf die hohen Kosten zur Absicherung der B27 hin. In einem Kooperationsgespräch waren die Aktivist*innen trotzdem kompromissbereit: “Obwohl das Kostenargument keinerleiversammlungsrechtliche Relevanz hat, haben wir uns mit der Stadt, der Polizei und dem Landratsamt darauf geeinigt, erst in Derendingen auf die B27 aufzufahren und somit die Kosten für die Stadt deutlich, nach Angabe des Ordnungsamtes auf maximal 20.000 Euro, zu senken. Dass dieses Problem überhaupt aufgetreten ist, hat uns allerdings verwundert, denn bei Demos auf Straßen ist es bundesweit gängige Praxis, Amtshilfegesuche an andere Behörden zu schicken. Die rechtliche Grundlage dafür ist klar: Wenn der Stadt die personellen oder technischen Mittel für Straßensperrungen fehlen, können sie nach dem Landesverwaltungsverfahrensgesetz (§§ 4, 5 LVwVfG) andere Behörden um Amtshilfe ersuchen – insbesondere bei der Polizei, aber auch bei anderen Behörden wie der Autobahn GmbH. Diese müssen dem Ersuchen nachkommen und dürfen dafür keine Kosten von der Stadt verlangen (§ 8 Absatz 1 LVwVfG). Dieses Vorgehen ist bundesweit bei Versammlungen üblich, teilweise werden sogar aus anderen Bundesländern Polizeikräfte angefordert. Dennoch hat das Ordnungsamt Tübingen dies erst nach mehreren nachdrücklichen Hinweisen von unserer Seite überhaupt angefragt – und das auch erst wenige Tage vor der Demo. Die Beauftragung eines teuren externen Dienstleisters zur Absicherung der Demo wäre also eigentlich nicht notwendig gewesen und die Kosten für die Stadt Tübingen hätten auch vermieden oder zumindest deutlich verringert werden können”, erklärt Michel Weber.
Kiki Köffle ergänzt: “Die Versammlungsfreiheit ist eines der höchsten Güter in unserer Demokratie. Den Versuch, Protest mit dem Kostenargument zu delegitimieren, halten wir für äußerst bedenklich. Natürlich ist die Absicherung von Versammlungen immer auch mit Kosten verbunden. Unsere Demokratie gibt es eben nicht umsonst. Wer darüber hinaus denkt, eine Raddemo auf dem Radweg gegen den Ausbau der B27 sei gleichwertig zu einer Demo auf der B27, hat sich offensichtlich auch noch nie weitergehend mit Protesten beschäftigt. Ein Protest ist da, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Radfahrer*innen auf einem Radweg bringen offensichtlich nicht in gleicher Weise die Aufmerksamkeit von Medien und Vorbeifahrenden für unser Anliegen. Nicht umsonst ist die freie Wahl des Versammlungsortes ein zentraler Bestandteil unseres Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit”.
Auch inhaltlich widersprechen die Aktivist*innen dem Landrat: “Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten. Die Andeutung, dass mehr Straßen zu weniger Stau führen würden, stimmt einfach nicht, was zahlreiche Studien, die auch im Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages genannt werden, zeigen (Wissenschaftliche Dienste: Deutscher Bundestag, 2021; Verron et al., 2005). Statt immer mehr Straßen zu bauen, brauchen wir endlich eine klimagerechte Verkehrswende.” erklärt Sebastian Kornmeier. “Die Klimakrise bedroht schon heute unseren Wohlstand und unsere Wirtschaft. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung prognostiziert einen weltweiten Wohlstandsverlust um 20%bis 2050 aufgrund der Klimakrise (Kotz et al., 2024). Dass Herr Walter die Kosten von mittlerweile fast einer halbenMilliarde Euro für den Schindhaubasistunnel unerwähnt lässt, zeigt, dass das Kostenargument für ihn offenbar nur äußerst selektiv zählt.”
“Wir haben unsere Demonstration kulanterweise schon zwei Monate im Voraus angemeldet, waren jederzeit gesprächsbereit und haben sogar aus Kostengründen Kompromisse gemacht, obwohl diese bei der verfassungsrechtlich garantierten Versammlungsfreiheit keine Rolle spielen dürfen und die Stadt sich nicht rechtzeitig um Amtshilfe gekümmert hat. Dass uns jetzt von politischer Seite die Verantwortung für die vermeidbaren Kosten zugeschoben wird, ist unangemessen und kann auch als Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Versammlungsfreiheit gesehen werden – vielleicht wäre die Arbeitszeit sinnvoller in die Umsetzung der Verkehrswende investiert gewesen”, so Johannes Reinsch.
(1) Dokumentation: Straßenbau und Verkehrsentwicklung, Wissenschaftliche Dienste; Deutscher Bundestag 2021: https://www.bundestag.de/resource/blob/855100/a3a015f40fee3b8182c41bc48c362277/WD-5-044-21-pdf.pdf
(2) Determinanten der Verkehrsentstehung, Verron et al 2005: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/2967.pdf
(3) Kotz, M., Levermann, A. & Wenz, L. The economic commitment of climate change. Nature628, 551–557 (2024). https://doi.org/10.1038/s41586-024-07219-0