10 Fragen an die Seebrücke

mit Sara da Piedade Gomes

1. Für alle, die noch nicht so viel von euch gehört haben und nicht wissen, was ihr so macht: Was ist die Seebrücke und was macht ihr (in Tübingen) da genau?

Als vor ziemlich genau 2 ½ Jahren die „Lifeline“ mit 234 Menschen an Bord tagelang auf hoher See ausharren musste und in keinem europäischen Hafen anlegen konnte, und mehrere Städte und Länder anboten, die Menschen von der „Lifeline“ aufzunehmen, wäre die Stunde der Politiker*innen gewesen, um Menschlichkeit und Empathie zu zeigen. Doch statt die Solidarität innerhalb der Bevölkerung anzuerkennen, nutzten europäische Politiker*innen wie Seehofer, Salvini und Kurz die Not der Menschen aus, um ihre eigenen Machtkämpfe auszutragen. Sie traten und treten damit internationale Menschenrechte mit Füßen. Aus Empörung über diesen Zustand haben sich einige Aktivist*innen organisiert. Daraus erwuchs innerhalb weniger Tage die Bewegung Seebrücke, der sich deutschlandweit viele Menschen angeschlossen haben. Bisher sind 300.000 Menschen im Namen der Seebrücke auf die Straßen gegangen. Die Seebrücke ist eine internationale Bewegung, die sich mit allen Menschen auf der Flucht solidarisiert und von der deutschen und europäischen Politik sofort sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind, fordert. Unsere Aktionen vor Ort resultieren aus der Forderung, dass wir mehr Menschen als eine offizielle Aufnahmequote aufnehmen wollen (weil wir das auf jeden Fall können) und sie auf sicheren Wegen zu uns bringen, um das Leid auf der Flucht zu mindern.


2. Wie bist du zur Seebrücke gekommen? Was machst du sonst in deinem Leben?

Die Gründung der Seebrücke Tübingen fand vor ein bisschen mehr als ein Jahr auf Initiative eines Freundes von mir statt, der auch (so wie ich) aktiv ist in der kommunalen Politik. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es eine Reutlingen/Tübingen Gruppe. Wir merkten, es gab ein großes Interesse mehr Aktivismus zu diesem Thema in Tübingen zu betreiben.Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen vor einige Jahren als ich nach Deutschland migriert bin, habe ich mich zunehmend politisch engagiert (soweit es EU-Ausländer*innen erlaubt ist) und meinen Fokus auf Antirassismus und Migrationspolitik gelegt. Die Ungerechtigkeiten, die den Menschen auf und nach der Flucht passieren sind so gravierend, dass ich nicht mehr leise sein wollte und daher die Seebrücke Tübingen mitgegründet habe.


3. Was ist dir bei eurer Arbeit wichtig? Was willst du auf jeden Fall zum Thema Geflüchtete an der Europäischen Grenze loswerden?

Mir persönlich ist es wichtig, dass alle wissen wie es den Menschen auf der Flucht gerade geht. Ich denke, wenn mehr Menschen sich dessen bewusst wären, wäre der Druck auf die politischen Entscheidungsträger*innen höher.Was ich loswerden will ist, dass mich schäme eine EU Bürgerin zu sein, wegen der Abschottungspolitik, die sie betreibt. Es ist einer Friedensnobelpreisträgerin nicht würdig, so viele Menschen ihr Recht auf Asyl zu verwehren und sie dafür lieber auf dem Mittelmeer oder an den Grenzen sterben zu lassen.


4. Wieviele Geflüchteten-Camps gibt es entlang der Europäischen Grenze? Und seit wann gibt es die? Wieviele Menschen leben aktuell dort?

Über die Gesamtanzahl der Camps gibt es keine gesicherten Quellen. Ein Großteil der Menschen auf der Flucht findet Schutz in Ländern des globalen Südens: Kolumbien (1,8 Millionen), Pakistan (1,4 Millionen), Uganda (1,4 Millionen), Türkei (3,6 Millionen). Es gibt einige sogenannte Hotspots, Lager in desolaten Zuständen, um abzuschrecken und Menschen zurückzuhalten, um und in der EU. Das größte Lager in der EU war Moria auf Lesbos und ist jetzt Kara Tepe, außerdem gibt es die Sammeleinrichtungen auf Chios, Samos, Leros und Kos. Insgesamt leben mehr als 17.000 Menschen, ein Drittel davon Kinder, in Camps auf den griechischen Inseln, die für viel weniger Menschen eingerichtet wurden. 


5. Das Geflüchteten-Camp Moria hat im September 2020 das erste Mal gebrannt. Hat sich die Situation in den Geflüchteten-Camps seitdem verändert? Wie ist die Situation dort im Moment?

Mittlerweile sehen wir, dass die Situation noch schlimmer ist als zuvor: der erste Regen hat das Lager Kara Tepe überflutet. Weder Unterkünfte, noch Schulbildung, Essensversorgung, oder Brandschutz werden gewährleistet. Babys werden in Felle gewickelt und in Wäschekörbe gelegt, die man dann im Zelt aufhängt. So versuchen die Eltern, die Kleinsten vor Nässe, Kälte und Ratten zu schützen. Die hygienische Bedingungen sind katastrophal und das Essen ist nicht ausreichend und häufig verdorben.


6. Hatten die Brände, die es bis jetzt in den Camps gab, einen Einfluss auf die Reaktionen von Entscheidungsträger*innen in der Politik? Handeln sie seitdem anders? 

Die Brände sind die Folge des Politikversagens der letzten Jahren. Aber das Politikversagen geht leider weiter wie bisher. 200 Kommunen in Deutschland waren bereit, die Menschen die dort lebten, aufzunehmen, doch Innenminister Seehofer lehnte einen deutschen Alleingang ab. In der EU schiebt man sich die Verantwortung hin und her. Die sofortige Evakuierung scheitert nicht am Geld, sondern am Willen und anstatt die Asylpolitik grundlegend zu ändern, entstand auf der Asche der Katastrophe ein neues menschenunwürdiges Camp – Kara Tepe. 


7. Welche Gründe gibt es, nach Europa zu kommen? Warum müssen Menschen hierher flüchten?

Migrationsentscheidungen basieren in der Regel nicht nur auf einer einzigen Ursache, sondern einem Zusammenspiel unterschiedlicher Motive und Zwänge. Geflüchtete Menschen verlassen ihr Zuhause meist nicht freiwillig. Es gibt viele Gründe, die Menschen zu dieser Entscheidung treiben: Krieg, Verfolgung, Diskriminierung, Armut und Umweltkatastrophen. Allerdings ist laut Artikel 1 der “Convention Relating to the Status of Refugees” von 1951 nur derjenige ein geflüchteter Mensch, der sein Land aus “Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung” verlässt. Was dabei allerdings immer eine Rolle spielt, ist die Angst um das eigene Leben, um das Leben und die Zukunft der Kinder, der Familie oder von Freunden. Daher unterscheiden wir bei der Seebrücke Tübingen nicht nach Gründen für die Flucht/Migration und wehren uns gegen eine solche Unterteilung. Wir wollen nicht, dass Kategorien wie Hautfarbe, Herkunft, Pass, Religion, Geschlecht, Geburtsort, sozialer und ökonomischer Status instrumentalisiert werden um von Zugehörigkeiten auszuschließen und Menschen zu unterdrücken und zu diskriminieren. Wir wollen ein menschenwürdiges Dasein für alle.Fluchtbewegungen und Migration waren in der Vergangenheit und sind in der Gegenwart ein Normalfall der Weltgesellschaft. Das Bemühen um die “Fluchtursachenbekämpfung” kann daher auch für die Zukunft nicht bedeuten, den Schutz von Flüchtenden zu vernachlässigen. Indem die Politik versucht, ihren Fokus auf die Bekämpfung von Fluchtursachen zu legen, macht sie unter anderem zwei kapitale Fehler: Zum einen brauchen wir eine sehr kurzfristige Lösung für die Menschen, die bereits auf der Flucht sind, zum anderen wird durch diesen falschen Fokus die Verantwortung von den Täter*innen auf die Opfer übertragen. Wir im reichen und sicheren globalen Norden sind für den Großteil der Fluchtursachen verantwortlich. Sei es durch Außenpolitik, Waffenlieferungen oder die Klimaveränderungen. In dem die Politik ihren Schwerpunkt auf “Hilfe vor Ort” legt, verschiebt sie die Ursachen und die Verantwortungen. 


8. Derzeit ist die Klimakrise keine rechtlich akzeptierte Fluchtursache. Da die Klimakrise aber alle Menschen auf der Erde betrifft, sollte das geändert werden, oder? Siehst du dafür eine realistische Chance?

Eine rechtliche Grundlage, wie damit umzugehen ist, fehlt bisher in fast allen Staaten der Welt. Denn obwohl ganze Inselstaaten im Meer versinken, ist die „klimainduzierte Migration“ nicht Teil der Genfer Flüchtlingskonvention.Im Jahr 2016 wurden mehr als 30 Milli­onen Menschen weltweit aus ihrem Zuhause vertrieben. Seit 2008 wurden durchschnittlich 26 Millionen Menschen jährlich aufgrund extremen Klimas gezwungen, andernorts Schutz und Perspektiven zu suchen. Kolonialisierung und Weltmarktpolitik haben über Jahrhunderte zur Ausbeutung von bestimmten Menschengruppen und Ländern geführt. Die Folgen des Klimawandels tragen unfairerweise größtenteils die Länder des globalen Südens, die nur sehr unwesentlich zum Klimawandel beigetragen haben. Sie besitzen aber im Gegensatz zu den Verursachern, den  Industrieländern, nicht die nötigen Ressourcen, um sich dem Klimawandel anzupassen.
Schweden ist bisher das einzige Land, in dessen Gesetzgebung zumindest die Existenz von Umwelt-Migranten „as a person in need of protection, who is unable to return to his native country because of an environmental disaster“ Erwähnung findet. Im Fall von Naturkatastrophen existieren jedoch Ausnahmen, in denen bspw. die USA, Kanada oder die Europäische Union betroffenen Menschen temporäres Asyl gewähren.
Der Weltpolitik wird auf lange Sicht nichts anderes übrig bleiben, als die Auswirkungen der Klimaveränderungen als Fluchtursache anzuerkennen, sollten weiterhin keine adäquaten Maßnahmen ergriffen werden um die Klimakrise zu stoppen. Wir sind auf dem besten Weg, die Zerstörung vieler Lebensräume nicht umkehrbar zu machen. Die Anzahl von Menschen, die gezwungen sind, aus diesem Grund ihr Zuhause zu verlassen wird dementsprechend ansteigen. Dies zu ignorieren ist jedenfalls keine Lösung. 


9. Die Klimakrise bedroht das Leben aller Generationen, Tiere und Pflanzen. Hitzewellen trocknen ganze Regionen aus und gefährden das Überleben vieler Menschen. Ern­ten werden vernichtet und es herrscht Wassermangel. Der gleichzeitig steigende Meeresspiegel bedroht ganze Inselstaaten, Küstenregionen erleben häufigere und heftigere Überschwemmun­gen. Menschen fliehen deswegen und stehen an der verschlossenen Europäischen Grenze. Siehst du in der Bekämpfung bzw. Eindämmung der Klimakrise eine Verbesserung für die Menschen an der Europäischen Grenze?

Nicht direkt. Aber die Bekämpfung des Klimawandels ist nicht nur eine Bekämpfung von Umweltproblemen, sondern auch eine Bekämpfung von sozialen Ungerechtigkeiten. Die Folgen des Klimawandels bekommen dabei vor allem die armen und ärmsten Bevölkerungsschichten im globalen Süden zu spüren. Ihre Lebensräume werden zerstört, das Recht auf Wasser und Nahrung, auf Wohnen und auf Bildung droht unter den Bedingungen des Klimawandels in noch weitere Ferne zu rücken. Eine Wirksame Eindämmung der Klimakrise kann nur gelingen, wenn wir grundlegende Dinge im Verhalten der reichen Länder des globalen Nordens ändern. Dazu zählt auch das rücksichtslose kapitalistische Konsumverhalten. Die Eindämmung der Klimakrise hätte daher auf verschiedensten Ebenen positive Auswirkungen für die ärmeren Menschen auf der Welt. 


10. Was können wir tun, um die Situation von Geflüchteten zu verbessern? Was können wir speziell in Tübingen tun?

Vor Ort können wir dafür sorgen, dass eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten stattfindet. Wir können für eine Gesellschaft vor Ort kämpfen, die sich nicht an völkischen Idealen sowie rassistischen, antisemitischen, antimuslimischen, sexistischen, heteronormativen und transfeindlichen Strukturen orientiert. Wir können für ein Bleiberecht und gegen Abschiebungen, die von unserer Stadt ausgehen, kämpfen. Da Tübingen ein “sicherer Hafen” ist, möchten wir sofort mehr Menschen auf der Flucht hier aufnehmen, als durch den Bund vorgesehen ist. Wir haben auch bereits ganz konkrete Hilfe durch einen Hilfsgütertransport medizinischer Güter nach Griechenland unterstützt. Jede Lokalgruppe der Seebrücke ist ein Puzzlestück. Alleine erreichen wir nicht viel, nur einen kleinen Teil. Greifen alle Puzzlestücke ineinander haben wir die Chance die Wahrnehmung und die Empathie in der Bevölkerung maßgeblich zu verändern und Druck auf die handelnden Politiker*innen auszuüben. Die EU muss endlich zu ihren Werten stehen, auf deren Basis sie einst gegründet wurde. Es ist schon zu viel Zeit vergangen und vor Allem ist jeder Mensch, der auf der Flucht stirbt oder unter unmenschlichen Bedingungen leben muss einer zu viel.


Danke für die Beantwortung der Fragen!

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